Wie Affen denken - kognitive Prozesse beim Lösen von Problembox-Aufgaben - Untersuchungen mit verschiedenen Primaten.
Dr. rer. nat. Dissertation
146 Seiten
Fachbereich Biologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Betreuung: Prof. Dr. G. Dücker
Zoo Münster, Zoo Duisburg, Zoo Krefeld und Zoo Wuppertal
Zusammenfassung:
In der vorliegenden Arbeit wird eine aus der Tierpsychologie altbekannte Methode, die Problembox-Aufgabe, für die Bearbeitung einer Fragestellung aus dem Bereich einer neuen Richtung der Ethologie, nämlich der Vergleichenden Kognitionsforschung, eingesetzt. Das Problemlöseverhalten verschiedener Primaten (Kapuzineraffen, Gibbon, Orang-Utans, Gorillas, Schimpansen, Kinder), insbesondere ihre Fähigkeit zur visuellen Kontrolle bei der Einstellung von Drehverschlüssen, die die Tür und damit den Zugang zur Futterbelohnung versperren, wird vergleichend analysiert, um auf die zugrundeliegenden kognitiven Prozesse zu schliessen. Kognitive Prozesse sind Erkenntnisprozesse,sie dienen dem Erwerb, der Organisation und dem Gebrauch von Wissen.
Im Theorieteil wird beschrieben, wie sich der neue "animal cognition"-Ansatz historisch entwickelt hat, und wie wichtig dabei neben erkenntnissen aus der Ethologie auch Einflüsse aus der Vergleichenden Psychologie und der modernen Humanpsychologie waren.
Früher war man bemüht, eine Intelligenzrangfolge er Arten zu erstellen. Dazu musste man Intelligenz messen (psychometrischer Intelligenzansatz). Es zeigte sich aber, dass keine Einigkeit darüber besteht, was Intelligenz ist, und dass es demzufolge erhebliche Probleme bei der Intelligenzmessung, besonders bei der Messung und dem Vergleich tierlicher Intelligenz, gibt. Eine Vielzahl unterschiedlicher Variablen wie artspezifisches Temperament, sensorische und motorische Fähigkeiten, Alter, Geschlecht, Vorerfahrung und Motivation kann die zu messende angebliche Intelligenzleistung beeinflussen.
Nahrungsbeschaffungsprobleme und soziale Probleme sollen in der Evolution der Primatenintelligenz einen hohen Selektionsdruck ausgeübt haben
Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist nicht, herauszufinden, welcher Affe der intelligenteste ist. Vielmehr geht es bei der Vergleichenden Kognitionsforschung darum, wie unterschiedlich Tiere/Menschen denken.
Kognitive Prozesse werden modellhaft veranschaulicht, indem man Regeln formuliert, nach denen der Problemlöser vorgeht. Sind solche auf ein Ziel (z.B. Futterbelohnung) ausgerichteten Handlungsregeln hierarchisch geordnet, nennt man sie auch Handlungsplan. Ein wichtiges Element von solchen Problemlösestrategien sind Kontrollschritte, mit denen überprüft wird, inwieweit der erreichte Ist-Zustand mit dem erstrebten Soll-Zustand übereinstimmt.
Für die Lösung der von mir verwendeten Problembox-Aufgaben ist zunächst entscheidend, ob das Versuchstier bzw. die Versuchsperson diese Kontrolle vornehmen kann, d.h. ob es/sie erkennt, wie weit ein Verschluss noch gedreht werden muss, damit die Tür sich aufziehen lässt.
Am Ende des Theorieteils werden die Arbeiten zweier Primatologen vorgestellt, die - wie ich - Leistungsunterschiede zwischen Primaten quantitativ bestimmt und dann qualitativ zu interpretieren versucht haben. Für jeden der beiden Autoren ist ein Begriff von zentraler Bedeutung, der die Abstraktionsleistung derPrimaten benennt und den ich für meine Untersuchungen übernommen habe. Für RUMBAUGH ist es der Begriff Transfer, für THOMAS der Begriff Konzept.
Wenn etwa beim erlernen von Musterunterschedungen das Beherrschen einer ersten Aufgabe dem Vt /der Vp das Erlernen einer neuen Aufgabe erleichtert, leistet es/sie positiven Transfer.
Wenn das zuvor Gelernte das Vt/die Vp dagegen beim Erlernen einer neuen Aufgabe behindert (weil es/sie altbekannte Lösungsstrategien verfolgt, die nicht übertragbar sind, anstatt neue zu entwickeln), spricht man von negativem Transfer. Negativer Transfer ist ein Zeichen dafür, dass die verfolgte Problemlösestrategie nicht abstrakt genug ist. Sie passt nur auf das erste, nicht aber auf das zweite Problem.
Die Fähigkeit, vom speziellen Reizkontext abstrahieren zu können, unterscheidet Konzeptlernen von reinem Assoziationslernen: Während manche Tiere bestimmte Reiz-Reaktionsverbindungen (Assoziationen) absolut lernen, lernen andere nach Regeln, die unabhängig von spezifischen Reizmerkmalen sind. Solche abstrakten Regeln beruhen nach RUMBAUGH und THOMAS auf Konzeptbildung. In Anlehnung an THOMAS wird in der vorliegenden Arbeit nur dann von Konzeptbildung gesprochen, wenn ein Vt/eine Vp sich bei der Einstellung der Drehverschlüsse nicht nach absoluten, sondern nach relativen Merkmalen richtet.
Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse der Problembox-Experimente dargestellt, interpretiert und diskutiert.
Die erste Frage ist dabei, ob das Vt/ die Vp beim Drehen der Verschlüsse nur Zufallstreffer erzielt, oder ob es/sie eine Lösungsstrategie "visuelle Kontrolle" entwickelt.
Die Drehverschlüsse werden in einer Versuchsserie seitlich und in einer anderen oberhalb der Tür befestigt. Je nach Verschluss bzw. nach Armzahl des Verschlusses ("Zweier", "Dreier", "Vierer") ist die Chance, die Tür im Verlauf ungezielter Drehbewegungen zufällig zu entriegeln, gross (ca. 50% beim Vierer). Mittels des Chi-Quadrat-Tests für denVergleich einer empirischen mit einer theoretischen Verteilung wird errechnet, ob die in 30 Versuchen pro Verschluss und Position von einem Affen erreichte Trefferquote signifikant über der Zufallstreffer-Wahrscheinlichkeit liegt. Wenn ja, dann gilt die Lösungsstrategie "visuelle Kontrolle" als nachgewiesen. Nur einer von 13 untersuchten Affen (Gorillaweibchen Yuka) erreicht bei allen Verschlüssen auf allen benutzten Postitionen signifikante Trefferquoten. Es ist davon auszugehen, dass jeder Affe die visuelle Kontrolle erlernen kann, wenn ihm genügend Versuche zur Verfügung stehen. Von Interesse ist aber, warum manche es in 30 Versuchen schaffen und andere nicht.
Die Trefferquote ist nicht nur vom Versuchstier abhängig, sondern auch von der Posititon des Verschlusses: Wenn er seitlich der Tür befestigt ist, ist es für das Vt leicher, ihn richtig einzustellen, als wenn er oberhalb der Tür dargeboten wird.
Die zweite Frage ist die nach der Transferfähigkeit im RUMBAUGHschen und nach der Fähigkeit zur Konzeptbildung im THOMASschen Sinne.
Wenn ein Vt sich als Handlungsziel die Stellung (genauer: das Aussehen/die Ausrichtung) eines Verschlusses einprägt, der die Tür nicht mehr blockiert, dann lernt es absolut: Dieses Reizmerkmal ist kontextabhängig (nämlich verschluss- und positionsspezifisch) und daher nicht auf andere Verschlüsse und Positionen übertragbar. Die Lösungsstrategie "viesulelle Kontrolle anhand absoluter Merkmale" führt in der zweiten Versuchsserie zu negativem Transfer, weil die Position der Verschlüsse sich ändert und somit - ausser beim Vierer - auch die erforderliche Eindstellung:
Mehrere Affen (verschiedener Arten) drehen den Verschluss immer wieder in die Stellung, die sie sich aus der ersten Versuchsserie gemerkt haben, scheitern damit aber in der zweiten, weil der Verschluss die Tür in dieser Stellung blockiert. Dieser systematische Fehler führt in sechs Fällen dazu, dass ein Affe in den 30 Versuchen pro Verschluss und Position der Versuchsserie 2 überzufällig wenige Treffer erzeiehlt, was den zwei- oder dreiarmigen Vershcluss betrifft. Der gleiche Fehler kann auf den Vierer bezogen auftreten, wenn dieser Verschluss and der Ecke der Tür befest wird, den dort ändert sich seine Endstellung.
Wenn ein Vt dagegen - statt sich einzelne Verschlussstellungen einzuprägen - als Handlungsziel allgemein anstrebt, dass kein Verschlussarm mehr über die Türkante ragen darf, dann ist seine Lösungsstrategie unabhängig von Verschluss und Position. In Versuchsserie 2 zeigt ein solches Vt postitiven Transfer, weil das, was es gelernt hat, auf die neue Position übertragbar ist. Die "visuelle Kontrolle anhand relativer Merkmale" (gemeint ist die Relation Verschluss/Tür) beruht also auf Konzeptbildung. Sie wurde zumindest für das Gorillaweibchen Yuka nachgewiesen.
Positiver Transfer ist aber nicht in allen Fällen mit konzeptuellem Transfer gleichzusetzten: Es gibt auch Affen, die sich die Endstellung der Verschlüsse in Versuchsserie 1 absolut eingeprägt und dennoch in Versuchsserie 2 - nach anfäglichem ngegativen Transfer - auf die gleichen oder sogar höhrer Trefferquoten kommen als in Versuchsserie 1: weil sie die neuen Endstellungen schneller lernen als die alten. Sie wissen, dass es auf die Stellung ankommt, und auch das ist positiver Transfer, aber eben nicht Konzeptbildung im THOMASschen Sinn.
Drei Affen, zwei Kapuziner und ein Orang-Utan, entwickeln eine Lösungsstrategie, die viduelle Kontrolle überflüssig macht, die sogenannte Panzerknackertechnik: Wenn man mit einer Hand den Verschluss dreht und mit der anderen gleichzeitig an der Tür zieht, kann man das Problem "blind" lösen. Aber auch Affen, die nicht auf diese Technik kommen (können), ergänzen die visuelle Kontrolle durch Kontroll"griffe".
Kombinationsaufgaben, d.h. Aufgaben, bei denen zwei oder drei Verschlüsse gleichzeitig die Tür blockieren, erweisen sich als schwierig. Das Problem besteht hier nicht mehr nur darin, die Verschlüsse richtig einzustellen, sondern auch darin, herauszufinden, welcher Verschluss noch gedreht werden muss und welcher nicht. Ein in dieser Hinsicht systematisches Vorgehen überfordert die Affen offenbar. Je mehr Handlungsmöglichkeiten es gibt, desto wichtiger wird - wenn unnötiges Manipulieren vermieden und das Zeil möglichst direkt erreicht werden soll - die Abwägung, was zu tun sinnvoll ist. Man hat jedoch den Eindruck, dass die Tiere (und dasselbe gilt für kleine Kinder) - bevor sie an einem der dargebotenen Verschlüsse drehen - überwiegend nicht abwägen, ob diese Manipulation sie dem Ziel näherbringt oder nicht. Sofern sie in den Versuchsserien 1 und 2 gelernt haben die Verschlüsse unter visueller Kontrolle einzustellen, müssten sie dazu theoretisch zwar in der Lage sein, praktisch scheint es aber der Affennatur zu wiedersprechen, erst abzuwägen und dann zu handeln, zumindest, was diese Art von Aufgaben betrifft. Dagegen scheint affentypisch, dass die Vte die Verschlusspotitionen in immer gleichen Reihenfolgen "abarbeiten", sie gehen also nicht völlig unsystematisch vor. Nur kommt es immer wieder vor, dass sie (auch Yuka!) einen Verschluss, der die Tür nicht mehr blockiert, wieder davor drehen.
Das vielleicht wichtigste Ergebnis der vorliegenden Arbeit ist die Beantwortung der dritten Frage: Nicht Artunterschiede treten bei der Analyse kognitiver Prozesse anhand von Problembox-Aufgaben deutlich hervor, sondern individuelle. Durch die Versuche mit den Kindern konnte nachgewiesen werden, dass zumindest beim Menschen das Alter einer intervenierende Variable beim Lösen der Problembox-Aufgabe ist.
Für die Kinder wir für die Affen ist eine andere ganz entscheidende intervenierende Variable die motivationale bzw. emotionale Verfassung. An mehreren Beispielen werden entsprechende individuelle Unterschiede im Problemlöseverhalten erläutert. Wie weit ein Vt/eine Vp im Experiment vorankommt, ist wesentlich von seiner/ihrer Frustrationstoleranz abhängig.
Kognitive Prozesse sind nicht isoliert von emotionalen Einflüssen. Affen sind ebensowenig wie Menschen rein rationale Informationsverarbeitungsmaschinen. es geht in der vorliegenden Arbeit nicht nur um die Fähigkeit von Primaten zur visuellen Kontrolle, sondern auch um die zu emotionalen Kontrolle. Je stärker Frust und Wut werden - und das ist eben individuell sehr verschieden - desto weniger werden Handlungsalternativen nach Zielnähe/Zielferne abgewogen und vorausgeplant, zumindest nicht bei der hier verwendeten Art von Nahrungsbeschaffungsproblemen.
Probleme von sozialer Relevanz sind möglicherseise "lebensnäher", und sie scheinen - wie neuere Arbeiten zeigen - für die Untersuchung kognitiver Prozesse durchaus geeignet.
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