Fingertier (Daubentonia madagascariensis) im Zoo Frankfurt
© Thomas Wilms, Zoo Frankfurt
Überordnung: EUARCHONTOGLIRES
Ordnung: Affen und Halbaffen (PRIMATES)
Unterordnung: Halbaffen (Prosimiae / Strepsirrhini)
Teilordnung: Fingertier-Verwandte (Chiromyiformes)
Familie: Fingertierartige (Daubentoniidae)
Fingertier, Aye-Aye
Daubentonia madagascariensis • The Aye-aye • L'aye-aye
- Körperbau und Körperfunktionen
- Verbreitung
- Lebensraum und Lebensweise
- Gefährdung und Schutz
- Bedeutung für den Menschen
- Haltung
- Taxonomie und Nomenklatur
- Literatur und Internetquellen
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Das in seiner Heimat stark gefährdete Fingertier ist eine hochinteressante Tierart, die aber zu ihrer Präsentation eines Nachttierhauses bedarf. Da die Ausfuhr aus Madagaskar beschränkt ist und erst seit der Jahrtausendwende Nachzuchttiere in geringer Zahl verfügbar sind, ist die Zahl der europäischen Haltungen sehr überschaubar. Körperbau und KörperfunktionenFingertiere erreichen eine Kopf-Rumpflänge von 30-37(-45) cm, eine Schwanzlänge von 44-53(-55) cm und ein mittleres Gewicht von 2.4-2.6 kg. Weibchen sind geringfügig kleiner und leichter als Männchen. Der Kopf ist groß, die Schnauze stumpf mit einem nackten, fleischfarbenen Nasenspiegel. Die Augen sind relativ groß und haben eine gelbbraune Iris, die Ohren sehr groß, häutig und seitlich abstehend. Das Gebiss besteht aus nur 20 Zähnen. In jeder Kieferhälfte befindet sich ein großer, meißelfärmiger, wurzelloser Schneidezahn. Die seitlichen Schneidezähne und die Eckzähne fehlen im definitiven Gebiss. Finger und Zehen sind stark verlängert. Der Mittelfinger ist besonders lang und dünn. Daumen und Großzehe haben Plattnägel, ansonsten sind Krallen vorhanden. Der Körper ist schlank, der lange Schwanz sehr buschig. Das Fell ist allgemein dunkelbraun, am Kopf bis auf die schwarzen Augenringe hellgrau. Die längeren Grannenhaarse sind schwarz und haben mist weiße Spitzen. Junge Fingertiere sehen bis auf die anfänglich grüne Iris schon genauso aus wie Erwachsene. Ein Kindchenschema gibt es nicht. Im Milchgebiss sind die seitlichen Schneidezähne und die Eckzähne noch vorhanden [2; 5; 9]. VerbreitungMadagaskar: Ost- und West-Madagaskar, fehlt im zentralen Hochland, eingeführt auf der 5.2 km² großen Insel Nosy Mangabe, wo sich seit den 1960er Jahren ein auf 9 Gründertiere zurückgehender Bestand halten kann, und Aye-Aye Island (= Île Roger), wo der Bestand möglicherweise erloschen ist [1]. Lebensraum und LebensweiseDas Fingertier besiedelt im Osten Madagaskars feuchte Primär- und Sekundärwälder des Tieflands und Bergwälder bis auf eine Höhe von 1'875 m, im Westen laubabwerfende Wälder und Trockenbusch, ansonsten Küstenwälder, Mangroven, Kokosplantagen und Zuckerrohrpflanzungen. Das Fingertier ist nachtaktiv und lebt überwiegend auf Bäumen. Den Tag verschläft es in einem aus Blättern, Ästen und Lianen gebauten, kugelförmigen Baumnest, von denen es meist 2-5 besitzt. Es ist weitgehend solitär, kann sich aber zeitweilig zu Paaren oder kleinen Gruppen zusammenschließen, die gemeinsam auf Futtersuche gehen. Die Männchen haben Streifgebiete von 125-215 ha, die Weibchen von 30-40 ha. Die Streifgebiete der Männchen überlappen sich mit denen von Weibchen und anderen Männchen, Weibchen sind gegenüber anderen Weibchen territorial. Die Tiere ernähren sich hauptsächlich von Insekten und Insektenlarven, Früchten (z.B. Litschi, Mango), Samen (z.B. von Balsambäumen (Canarium madagascariensis)), Nüssen (z.B. Kokosnuss), Blüten, Nektar (z.B. vom Baum der Reisenden (Ravenala madagascariensis)), Bambussprossen oder -mark, Bienenhonig, Pilzen und Vogeleiern [1; 2; 5; 9]. Fingertiere verbringen einen großen Teil ihrer aktiven Zeit mit der Suche nach Insektenlarven. Dabei klopfen sie mit dem Mittelfinger die Baumrinde ab. klingt es hohl, bohren sie mit den Schneidezähnen ein Loch in die Rinde und holen die Larve mit dem langen, schlanken Finger heraus. Der Finger wird auch zum Herauspulen von Fruchtfleich, Bambusmark etc. verwendet oder beim Trinken und und als Kamm eingesetzt [1; 2; 5; 9]. Fingertiere haben keine feste Paarungszeit. Während eines Östrus paart sich ein Weibchen jeweils mit mehreren Meännchen. Nach einer Tragzeit von 164-172 Tagen wird ein einzelnes Junges geboren. Die Geburtsintervalle betragen 2-3 Jahre. Anfänglich hält sich das Junge im oder beim Nest auf, später wird es von der Mutter oft dort geparkt, wenn sie auf Nahrungssuche geht. Die Jungen beginnen mit 3 Monaten feste Nahrung zu sich zu nehmen. Mit 18-24 Monaten sind sie selbständig. Männchen machen mit zweieinhalb Jahren erste Deckversuche, Weibchen beginmen mit dreieinhalb Jahren sich fortzupflanzen [2; 9]. Gefährdung und SchutzDas Fingertier hat eine weite Verbreitung, aber die Bestände haben drastisch abgenommen und eine weitere Bestandesabnahme ist prognostiziert. Es wurde daher 2014 von "potenziell gefährdet" in die Kategorie "stark gefährdet" hochgestuft. Diese Einstufung wurde 2018 bestätigt (Rote Liste: ENDANGERED). Der internationale Handel ist durch CITES-Anhang I eingeschränkt. Zoogestütztes Artenschutzprojekt (Beispiel):
Bedeutung für den MenschenKulturelle Bedeutung: Das Aye-Aye, das sich oft ohne Furcht in menschlichen Siedlungen bewegt, gilt in manchen madagassischen Kulturen als tabu ("fady"). Manche Madagassen glauben, dass, wenn jemand im Wald schläft, das Aye-Aye ein Kissen aus Gras unter seinem Kopf baut. Wer ein solches Kissen findet, wird bald sehr reich. Andere sind überzeugt, dass es Unglück bringt oder dass, wer es berührt, sofort oder binnen Jahresfrist sterben muss [5]. Wirtschaftliche Bedeutung: Gebietsweise werden Fingertiere wegen ihres Fleischs bejagt oder als landwirtschaftliche Schädlinge verfolgt [1]. Die Ausfuhr ist geringfügig. Von 1977-2017 wurden aus Madagaskar nebst etwas Wissenschaftsmaterial 22 lebende Wildfänge exportiert, letztmals 2001. Empfängerländer waren Frankreich, Großbritannien (wohl Jersey) und die USA. Im selben Zeitraum (effektiv erst ab 2001) wurden weltweit 21 Nachzuchttiere über Landesgrenzen abgegeben. Herkunftsländer waren die USA, Jersey, Japan und Madagaskar [4]. HaltungFingertiere wurden bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vereinzelt in Zoos gehalten so in London und Hamburg. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten auch die Zoos von Berlin, Frankfurt und Köln Einzeltiere. BREHM teilt mit, dass ein Aye-Aye, das er (vermutlich im Londoner Zoo) gesehen hatte, "nichts weniger als sanft, im Gegentheile sehr reizbar und ungemüthlich" war. Zur Fütterung sagt er "Die einzige Nahrung, welche man dem Thiere reicht, ist frische Milch, mit der man das gekochte und zerriebene Dotter eines Eies zusammenrührt. Eine kleine Schüssel davon genügt für den täglichen Bedarf. Beim Fressen gebraucht der Aye-Aye seine beiden Hände: er wirft die flüssige Speise mit ihnen in seinen Mund. Fleischkost hat er bis jetzt hartnäckig verschmäht ..." [3]. Dass unter solchen Umständen Haltungsdauern von mehreren Jahren möglich waren, verwundert schon etwas. Heute erhalten Fingertiere Früchte und Gemüse, Naturjoghurt, frisches Ei und Insekten, z.B. Larven der Wachsmotte (Galleria mellonella) sowie einen vom Bristol Zoo entwickelten Spezialbrei [8]. WEIGL gibt als Haltungsrekord 23 Jahre und 3 Monate für ein Tier an, das 1914 vom Amsterdamer Zoo erworben worden war [7]. Haltung in europäischen Zoos: Das Fingertier wird nur in wenigen Zoos gehalten, überwiegend auf den Britischen Inseln. In Kontinentaleuropa ist der Zoo Frankfurt gegenwärtig (2024) der einzige, der die Art hält. Für Details siehe Zootierliste. Es gibt ein Europäisches Erhaltungszuchtprogramm (EEP, seit 2004), das vom Jersey-Zoo koordiniert wird. Dieser führt auch das seit 1992 bestehende Internationale Zuchtbuch (ISB), das im Februar 2015 58 lebende Individuen in 16 Einrichtungen umfasste [IZY 52]. 2021 waren es 56 Tiere in 14 Einrichtungen [10]. Dem Jersey Zoo gelang 1992 die europäische Erstzucht. Im Mai 2010 wurde im Zoo Frankfurt erstmals in Deutschland ein junges Aye-Aye geboren. Da die damals fünfjährige Mitter keine Milch hatte, verstarb es nach nur fünf Tagen. Im Frühjahr 2011 kam wiederum ein Jungtier zur Welt, das dann erfolgreich aufgezogen wurde, weitere Nachzuchten gab es 2018 und 2021 - lauter Männchen. In den letzten Jahren gab es auch Geburten in den Zoos von London und Bristol. Mindestanforderungen an Gehege: Nach Säugetiergutachten 2014 des BMEL soll für ein Paar ein Innengehege von 15 m²/ 45 m³ angeboten werden und zusätzlich 3 m²/ 9 m³ für jedes weitere Tier. Die Tierschutzsachverständigen der Zoos vetrtraten die Ansicht, dass wegen der einzelgängerischen Lebensweise der Fingertiere anstelle der Vorgaben des Gutachtens verbindbare Gehege zu je 8-10 m² pro Tier zweckmäßiger wären. Dass bei der Haltung in Nachttierhäusern in der Nachtphase die Beleuchtungsstärke unter 0,3 Lux liegen muss, wie es das Gutachten vorgibt, ist nicht praktikabel und mit dem Betrieb einer öffentlich zugänglichen Anlage nicht zu vereinbaren (Sichtbarkeit der Tiere, Diebstahl, sexuelle Übergriffe). Tierhalterische Erfahrung zeigt, dass bei Beleuchtungsspitzen bis 4-6 Lux in den Gehegen keine negativen Auswirkungen beobachtet werden können. Wesentlich ist, dass das Verhältnis der Beleuchtungsstärken der Nacht- und Tagphase mindestens 1:100 beträgt [6]. Die Schweizerische Tierschutzverordnung (Stand 01.06.2024) regelt die Haltung von Fingertieren nicht. Nach der 2. Tierhaltungsverordnung Österreichs (Stand 2024) muss die Haltung paarweise oder in kleinen Familiengruppen erfolgen. Dazu ist ein Innengehege mit einer Fläche von 20 m² und einer Höhe von je 3 m erforderlich. Taxonomie und NomenklaturDas Fingertier war 1788 vom Göttinger Professor Johann Friedrich GMELIN in Band I der von ihm bearbeiteten 13. Auflage von LINNÉS "Systema Naturae" als "Sciurus madagascariensis", also als Eichhörnchen, erstmals beschrieben worden. Der heute gültige Gattungsname Daubentonia wurde 1795 von Étienne GEOFFROY SAINT-HILAIRE zu Ehren seines Lehreres am Collège de France in Paris, Louis-Jean-Marie DAUBENTON, verliehen. Aber erst 1803 erkannte der thüringischen Naturforscher Johann Christian Daniel von SCHREBER, dass es sich um einen Halbaffen handelte, den er als "Lemur psilodactylus" neu benannte. Daubentonia madagascariensis, von der es keine Unterarten gibt, ist die einzige überlebende Art der Gattung. Eine zweite Art, das Riesenfingertier (Daubentonia robusta) ist vor vermutlich weniger als 1'000 Jahren ausgestorben [8; 9]. |
Literatur und Internetquellen
- LOUIS, E.E. et al. (2020). Daubentonia madagascariensis. The IUCN Red List of Threatened Species 2020: e.T6302A115560793. https://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2020-2.RLTS.T6302A115560793.en. Downloaded on 09 February 2021.
- BERGER, G. & TYLINEK, E. (1984)
- BREHM, A. E. (1882-1887)
- CITES TRADE DATA BASE
- GRZIMEK, B. (Hrsg. 1970)
- SCHERPNER, C. (1982)
- WEIGL, R. (2005)
- WILMS, T. M. & PARYS, A. (2011)
- WILSON, D. E. et al. eds. (2009-2019)
- EEP LONGTERM MANAGEMENT PLAN (2021)