Zum Sozialverhalten rudellebender Wildcaniden in Gefangenschaft. Vergleichende Untersuchungen an Canis lupus, Cuon alpinus, Lycaon pictus und Speothos venaticus
Dissertation
223 Seite
Fachbereich Biologie, Philipps-Universität Marburg
Leitung: Prof. Dr. Lothar Beck
Zoo Duisburg, Zoo Dortmund, Zoo München, Zoo Osnabrück, Wildpark Hanau, Zoo Mulhouse/Frankreich
Zusammenfassung:
Innerhalb der Familie Canidae gibt es neben dem Wolf, Canis lupus, drei monotypische Gattungen, den südamerikanischen Waldhund Speothos venaticus, den asiatischen Rothund Cuon alpinus und den Afrikanischen Wildhund Lyacon pictus, die nicht nur in Gruppen leben, sondern auch gemeinsam jagen und gemeinsame Jungenfürsorge betreiben. Nur sehr wenige Säugetierarten leben in Rudeln, was gemeinsames Jagen und gemeinsame Jungenfürsorge umfasst. Innerhalb der Caniden liegt eine auffällige Häufung dieser Sozialform vor. Es stellen sich die Fragen, ob das Rudelleben im Laufe der Evolution innerhalb der Caniden mehrfach unabhängig entstanden ist und inwieweit die vier rudellebenden Arten miteinander verwandt sind. Außerdem ist unklar, welche Evolutionsmechanismen die Rudelbildung möglicherweise begünstigt haben. Im Hinblick auf diese Fragen wurde in der vorliegenden Arbeit das Sozialverhalten der vier rudellebenden Canidenarten vergleichend untersucht.
Die Untersuchungen fanden in sechs zoologischen Gärten, in Dortmund, Duisburg, Klein-Auheim, Mulhouse, München und Osnabrück statt. Die Datenerhebung erfolgte durch direkte Beobachtung unter zeitweiliger Zuhilfenahme von Videoaufnahmen. Die Beobachtungen wurden nach der Fokustier-Methode, der All-Occurance-Methode, Punktmessungen und der Ad-Libitum-Methode durchgeführt (alle nach ALTMANN 1974b und LEHNER 1996).
Hauptuntersuchungspunkte waren das Vorkommen von bestimmten Ausdrucksgesten und von sozialen Verhaltensweisen, die soziale Rangordnung, Kontaktaufnahmen und Distanzen zwischen den Tieren eines Rudels sowie das Harnen und Koten. Es wurde für die jeweiligen Untersuchungspunkte geprüft, ob die gefundenen Ergebnisse Hinweise auf eine nähere Verwandtschaft der vier untersuchten Arten oder auf Evolutionsmechanismen geben könnten.
In den Ausdrucksgesten und sozialen Verhaltensweisen zeigen die vier untersuchten Arten große Ähnlichkeit, wobei die größte Übereinstimmung zwischen C. lupus und Cuon vorliegt. Speothos ist in seinen Ausdrucksgesten durch verschiedene morphologische Besonderheiten eingeschränkt. Deutliche Unterschiede zwischen den untersuchten Arten bestehen darin, dass nur Cuon seinen Schwanz zum Imponieren umgekehrt U-förmig halten kann, dass nur C. lupus seine Zähne durch vertikales Zusammenziehen der Lippen blecken kann, und dass bei C. lupus und Cuon im Gegensatz zu Speothos und Lycaon Imponieren unter Beibehaltung der Individualdistanz vorkommt.
Alle vier untersuchten Arten bilden Rangordnungen innerhalb ihrer Rudel aus, wobei typischerweise für jedes Geschlecht eine Rangordnung vorliegt. Aggressive und rangrelevante Auseinandersetzungen kommen zwischen verschiedengeschlechtlichen Individuen seltener vor als zwischen gleichgeschlechtlichen. Anhand der Rangordnungsstrukturen können keine Hinweise auf das Verwandtschaftsverhältnis der untersuchten Arten abgeleitet werden.
C. lupus und Cuon sind Distanztiere. Lyacon kann als fakultatives, Speothos als obligatorisches Kontakttier eingestuft werden. Speothos fehlt die Individualdistanz vollständig, was als Pädomorphose gedeutet wird. Beschnuppern ist die häufigste Art der Kontaktaufnahmen von Männchen zu Weibchen.
Die Distanzen zwischen den einzelnen Rudelmitgliedern lassen bei C. lupus und Lycaon sowie während der Ruhe auch bei Speothos Rückschlüsse auf die soziale Bindung der Tiere zueinander zu. Unabhängig von der tatsächlichen Distanz wurde auch die Häufigkeit untersucht, mit der ein Individuum ein anders als nächsten Nachbar hat. Bei C. lupus Speothos kommen die Alpha-Tiere eines Rudels besonders häufig als nächster Nachbar vor. Den Alpha-Tieren beider Arten kann daher räumlich wie sozial eine zentrale Position innerhalb des Rudels zugeschrieben werden. Die Bedeutung und Herkunft der zentralen Position von Alpha-Tieren innerhalb eines Rudels wird diskutiert. Die zentrale Position der Alpha-Tiere ist bei C. lupus und Speothos als Symplesiomorphie zu deuten. Bei Lycaon scheint die znetrale Position der Alpha-Tiere durch die enge soziale Bindung zwischen gleichgeschlechtlichen adulten Geschwistern weniger bedeutend zu sein.
Während bei C. lupus, Cuon und Lycaon im Allgemeinen nur die Alpha-Tiere mit harn und Kot markieren, markieren bei Speothos alle Rudelmitglieder gleichermaßen Phylogenese und Bedeutung dieser Besonderheit von Speothos werden diskutiert.
Beim Vergleich der untersuchten Rudel wurde festgestellt, dass manche Rudel artunabhängig Gemeinsamkeiten aufweisen. Für diese interspezifischen Gemeinsamkeiten wird in der vorliegenden Arbeit der Begriff der „Rudelführung“ neu eingeführt. Der despotische Typ der Rudelführung ist im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass das dominante Tier durch häufigen Beginn von Rangauseinandersetzungen seine Dominanz manifestiert. Bei der toleranten Rudelführung unterwirft sich das unterlegene Tier häufig freiwillig und spontan, wodurch es das Rangverhältnis und damit die Dominanz des Partners bestätigt. Es wird diskutiert, warum die in der vorliegenden Untersuchung festgestellten Typen der Rudelführung wichtige Merkmale zur Beschreibung von sozialen Strukturen bei Caniden sind.
Für die Canidae werden anhand von Literaturangaben die Prädispositionen zum Leben in größeren Gruppen, zum Fortpflanzungsmonopol, zur gemeinsamen Jungenaufzucht und zur gemeinsamen Jagd diskutiert. Für die Rudelbildung gibt es innerhalb der Caniden eine ausgeprägte Prädisposition. Eine mehrfache konvergente Entwicklung des Rudellebens ist daher wahrscheinlich. Zur Klärung der näheren Verwandtschaft der rudellebenden Caniden müssen weitere Merkmale herangezogen werden.
Speothos unterscheidet sich von C. lupus, Cuon und Lycaon durch zahlreiche im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchte Merkmale, wie die fehlende Individualdistanz, das obligate Kontaktliegen, das Markieren aller Rudelmitglieder, die Handstandhaltung beim Harnen, das Versprühen von Urin in die Luft, das Buckeln bei Drohen, die übertriebene Ausführung bestimmter Verhaltensweisen und die wesentlich eingeschränkteren Ausdrucksgesten. Zusammen mit Befunden aus morphologischen und paläontologischen Untersuchungen kann daher gefolgert werden, dass Speothos unabhängig von den drei anderen Arten zum Rudelleben übergegangen ist.
Da Lycaon nach Befunden der vorliegenden Arbeit zahlreiche Autapomorphien, aber keine Snapomorphien mit Canis oder Cuon besitzt, scheint auch Lacaon unabhängig von Canis und Cuon Rudel gebildet zu haben. Die Verwandtschaft von C. lupus und Cuon wird diskutiert und es ist wahrscheinlich, dass das Rudelleben bei C. lupus und Cuon ebenfalls unabhängig voneinander entstanden ist.
Der Rudelbildung bei Caniden liegt vermutlich Pädomorphose als proximativer Anpassungsmechanismus zugrunde. Allerdings ist pädomorphose kein grundsätzlicher Trend, der auf eine größere Anzahl von Merkmalen wirkt. Vielmehr liegt bei den rudellebenden Caniden eine mosaikartige Evolution von verschiedenen Heterochronien vor.
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