Alpengemsbock (Rupicapra r. rupicapra) im Winterkleid, Tierpark Berlin
© Peter Dollinger, Zoo Office Bern
Überordnung: LAURASIATHERIA
Taxon ohne Rang: CETARTIODACTYLA
Ordnung: Paarzeher (ARTIODACTYLA)
Unterordnung: Wiederkäuer (Ruminantia)
Familie: Hornträger (Bovidae)
Unterfamilie: Ziegenartige: (Caprinae)
Tribus: Gemsenverwandte (Naemorhedini)
Gemse
Rupicapra rupicapra • The Chamois • Le chamois des Alpes
- Körperbau und Körperfunktionen
- Verbreitung
- Lebensraum und Lebensweise
- Gefährdung und Schutz
- Bedeutung für den Menschen
- Haltung
- Taxonomie und Nomenklatur
- Literatur und Internetquellen
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Als einheimische Art ist die seit der Rechtschreibereform von 1996 eigentlich (zum Leidwesen aller Nicht-Deutschspachigen, auf deren Computer-Tastatur es diesen Buchstaben nicht gibt) mit einem "ä" zu schreibende Alpengemse* für die Zoopädagogik von Bedeutung und stößt auch beim allgemeinen Publikum auf größeres Interesse. Dementsprechend ist sie, namentlich in Zoos und Wildparks der deutschsprachigen Region, recht gut vertreten. Körperbau und KörperfunktionenAnders als bei den meisten Horn- und Geweihträgern sind bei der Gemse (Neudeutsch: Gämse) die Geschlechter auf den ersten Blick nicht so leicht zu unterscheiden. Sowohl die weiblichen Tiere wie auch die Böcke tragen nämlich kurze, schwarze Hörner (Krickel, Krucken). Die Tiere erreichen eine Kopf-Rumpflänge von etwa 120-140 cm, eine Schulterhöhe von 70-85 cm. Böcke wachsen länger als Geißen und erreichen ein Gewicht von 35-50(-62) kg, Geißen sind mit etwa 25-45 kg deutlich leichter gebaut. Die bei beiden Geschlechtern etwa 17-28(-32) cm langen, hakenförmig gekrümmten, sehr spitzen Hörner, haben bei den Böcken einen Basisumfang von 6-10 cm. Bei den Geißen sind sie etwas schlanker und weniger stark nach hinten gekrümmt. Die Ohren sind mittellang, schlank und spitz. Der nackte Nasenspiegel und die Lippen sind schwarz. Gemsen haben keine Voraugendrüsen, sondern hinter den Hörnern gelegene Brunftfeigen, die ein fettiges, übelriechendes Sekret produzieren. Ferner sind Zwischenzehendrüsen vorhanden. Die Beine sind stämmig, die Zehen weit spreizbar, die Klauen lang und die Afterklauen gut entwickelt. Der kurze Schwanz ist unterseits behaart. Das kurze Sommerfell ist rötlichbraun mit dunkeln Beinen, Aal- und Flankenstrich. Das lange Winterfell ist dunkelbraun bis schwarz. Ganzjährig ist eine auffällige, schwarz- und weiße Gesichtsmaske vorhanden. Bauch und Analzone sind hell. Die Haare auf der Rückenmitte vom Nacken bis zum Schwanzansatz bilden im Sommerfell einen Aalstrich. Sie können aufgerichtet werden. Sie werden nur einmal jährlich, im Frühling, gewechselt und werden deshalb länger als das übrige Fell [3; 6; 7; 9; 20]. VerbreitungEuropa: ornata-Gruppe: siehe Mittelmeergemse (Rupicapra pyrenaica). Verbreitung der Alpengemse außerhalb der Alpen in Mitteleuropa: Vom Ostrand des Schwarzwaldes (Hüfingen) ist ein Knochenfund aus der Römerzeit bekannt. Bis ins Mittelalter war die Gemse im Hochschwarzwald noch Standwild. Erst mit dem Ende des 14. Jahrhunderts wurde sie ausgerottet und kam nur noch gelegentlich als Zu- und Durchzügler aus dem Allgäu, Vorarlberg und der Schweiz vor. Nachweise erlegter Gemsen liegen erst wieder ab 1880 vor. 1935/36 wurde eine Wiederansiedlung durchgeführt - mit Erfolg, denn heute gibt es im Schwarzwald wieder etwa 900 Stück Gamswild. Auch auf der Schwäbischen Alb und im Elbsandsteingebirge wurden Gemsen angesiedelt [3; 6; 13]. Im schweizerischen und französischen Jura kann die Gemse ab der letzten Eiszeit (Paläolithikum - Moustérien) nachgewiesen werden. Sie kam dort bis in die Jungsteinzeit (3000-1800 v. Chr.), eventuell bis in die Bronzezeit vor, danach verschwand sie. Erst seit gut einem Jahrhundert wurden gelegentlich wieder Beobachtungen gemacht. So wurde 1860 eine im Bielersee schwimmende Gemse eingefangen und wurde 1871 im Fricktal eine andere "irrtümlich als Wildsau" geschossen. Am Mont d'Or (Frankreich) war seit etwa 1930 eine kleine Population bekannt, deren Herkunft ungewiss ist. Im schweizerischen Jura wurde ein erster Wiederansiedlungsversuch 1910-1912 am Creux-du-Van gemacht. Die Tiere verschwanden aber während des Ersten Weltkriegs wieder. 1950-62 wurden in den Kantonen Neuenburg, Solothurn, Bern, Basel-Landschaft und Aargau insgesamt 84 in den schweizerischen Alpen gefangene Gemsen freigelassen. Diese Populationen zeigten anfänglich ein starkes Wachstum von 20-30 % pro Jahr. Heute lebt im Schweizer Jura ein Bestand von 3'000 bis 5'000 Tieren, der bejagt wird [7; 13]. Auch in den französischen Vogesen und im tschechisch-polnischen Altvatergebirge wurde die Alpengemse im 20. Jahrhundert mit Erfolg ausgesetzt [3]. Lebensraum und LebensweiseGemsen sind typische Bergtiere, die hauptsächlich in der Subalpine Stufe im Bereich der Waldgrenze vorkommen, im Sommer aber auch die Rasen der Alpinen Stufe nutzen und regelmäßig in Höhenlagen von 3'000 m anzutreffen sind. Zunehmend breiten sie sich auch in der Montanen Stufe aus, in der Schweiz nicht nur im Voralpengebiet, sondern auch in bewaldeten Hügeln des Mittellandes. In den Alpen unternehmen sie saisonale Vertikalwanderungen, und sind im Frühjahr in den Talböden anzutreffen, wo sie bereits schneefreie Wiesen beweiden. Die Tiere sind tagaktiv mit Hauptaktivitätszeiten am frühen Morgen und am Abend. Die Nahrung besteht im Sommer hauptsächlich aus Süß- und Sauergräsern sowie Kräutern; Zwergsträucher, Laub- und Nadelhölzer sind von geringerer Bedeutung. Im Winter ist es umgekehrt [3; 7; 10; 11]. Gemsen leben überwiegend in lockeren Rudeln von bis zu 30 Individuen. Namentlich im Winter können sie sich auch zu größeren Verbänden zusammenschließen. Im Frühjahr trennen sich ältere Böcke ab und beziehen einzeln oder zu zweit Sommerterritorien von bis zu 50 ha Fläche, die sie durch ein Sekret aus den hinter den Hörnern sitzenden Brunftfeigen markieren. Während der Brunft, meist erst ab der zweiten Novemberwoche, heften sich rangstarke Böcke wieder an die Geißenrudel. Die Jährlingsböcke schließen sich im Frühjahr oft zu separaten Rudeln zusammen, die mehr und mehr ihre eigenen Wege gehen. Während der Setzzeit im Mai Juni ziehen sich die Geißen etwas vom Rudel zurück, um nach einer Tragzeit von 153-180 Tagen ihr 3-5 kg schweres Kitz an einem geschützten Platz zur Welt zu bringen. 10-14 Tage nach der Geburt kehren die Muttertiere mit ihrem Nachwuchs zum Rudel zurück, wo sich die Kitze bald zum Spielen, später auch zum Äsen zu "Kindergärten" zusammenfinden. Im Spätsommer bestehen die Rudel typischerweise aus Geißen, Jährlingen und Kitzen [3; 9; 10; 12]. Gefährdung, Jagd und SchutzDie Alpengemse hat eine weite Verbreitung und einen Bestand von rund 300'000 erwachsenen Individuen. Sie gilt daher seit dem Jahr 2000, letztmals überprüft 2020, als nicht gefährdet (Rote Liste: LEAST CONCERN) [1]. Der internationale Handel ist durch CITES nicht geregelt. Die Gemse ist eine nach Anhang III des Berner Übereinkommens über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume geschützte Tierart (d. h. die Jagd muss geregelt sein). Sie fällt ferner unter Anhang V der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU. Der Frühjahresbestand in der Schweiz wurde in den letzten 20 Jahren jeweils auf 90-100'000 Tiere geschätzt. Er ist ziemlich stabil und lag im Jagdjahr 2020/21 bei 91'735 Tieren. Die Jahrestrecken gingen dagegen seit 1992 kontinuierlich zurück und lagen in den letzten Jahren bei 10-12'000 Stück [5]. Die Entwicklung in Österreich verlief parallel zu jener in der Schweiz. Nach einem Hoch anfangs der 1990er Jahre (1992: 29'192 Tiere) gingen die Strecken zurück und betrugen im Jagdjahr 2020/21 noch 20'444 Tiere [14]. In Deutschland nahmen die Strecken bis Mitte der 1990er Jahre bis auf 6'253 Tiere zu. Seitdem geht der Trend nach unten und die Abschüsse betrugen im Jagdjahr 2019/20 noch 4'641 Tiere [4]. In Liechtenstein gibt es ca. 600-650 Gemsen. Davon sollten im Jagdjahr 2011/12 145 erlegt werden (Amt für Wald, Natur und Landschaft). Im Südtirol betrug im Jagdjahr 2020/21 der Gemsabschuss 3'133 Stück [2]. Bedeutung für den MenschenGemsen werden traditionell als Sport und zur Gewinnung von Fleisch gejagt. Im Alpenraum gibt es kaum eine Gaststätte, in der nicht ein paar "Gamskrickerl" (in Bayern) oder "Gëmschihöreli" (im Berner Oberland) an der Wand hängen. Die Haut der Tiere wird zu Gemsleder verarbeitet, das sehr weich und geschmeidig ist und dessen Farbton als "chamois" bezeichnet wird. Es findet vor allem Verwendung zur Herstellung von Handschuhen und Lederhosen. Der „Gamsbart“, den man auf den Jägerhüten findet, besteht in Wirklichkeit aus dichten und schwarzen Haaren vom Rücken, die im Winter besonders bis zu 25 cm lang werden können [1]. In verschiedenen Gegenden wurden früher die Brunftfeigen von den Jägern ausgeschnitten und in getrocknetem Zustand den Gebärenden in die Hand gegeben. Sie sollten die Geburtswehen beschleunigen. HaltungGemsböcke sind im Gehege unter sich unverträglich und forkeln gelegentlich auch Gemsgeißen. Auch diese können gegenüber Geschlechtsgenossinen aggressiv sein. Es ist also für ausreichend Abtrennmöglichkeiten zu sorgen. Eine Vergesellschaftung mit Kleinsäugern wie Murmeltier und Schneehase ist möglich, von einer Gemeinschaftshaltung mit anderen Huftieren sollte zumndest in kleineren Gehegen abgesehen werden. Gemsen sind Steinböcken kampftechnisch überlegen und tyrannisieren diese. Eine Gemeinschaftshaltung mit Rotwild in einem 3 ha großen Gehege mit Abtrennmöglichkeiten im Tierpark Bern funktionierte dagegen während Jahren [12]. WEIGL gibt als Höchstalter 17 Jahre und 7 Monate an, erreicht von einem im Zoo Berlin gehaltenen weiblichen Wildfang [15]. Haltung in europäischen Zoos: Die Alpengemse, ausschließlich die Nominatform, wird in rund 50 europäischen Zoos, Tier- und Wildparks gehalten. Davon befinden sich etwa drei Viertel im deutschsprachigen Raum. Für Details siehe Zootierliste. Im Rahmen der EAZA halten 10 Zoos etwa 80 Tiere. Seit 2021 gibt es ein vom Zoo Košice koordniertes Europäisches Erhaltungszuchtprogramm ("New Style"-EEP). Wie sinnvoll dieses ist, sei dahingestellt [18]. Zoogestützte Forschung: Der Alpenzoo Innsbruck hat in den Jahren 2020, 2021 und 2022 je zwei besenderte Gemsböcke zur Verfügung gestellt, um die Auswirkungen eines sechs Jahre dauernden Stauseebaus im Tiroler Längental auf das Verhalten und die Raumnutzung der im Gebiet lebenden etwa 70-köpfigen Gemspopulation zu erforschen [19]. Wie Alpengemsen gehalten werden (Beispiel): Mindestanforderungen an Gehege: Das Säugetiergutachten 2014 des BMEL trägt den saisonalen Unterschieden in der Sozialstruktur der Gemsen keine Rechnung. Für die Haltung von fünf erwachsenen Tieren in einem konventionellen Zoogehege wird eine Mindestfläche von 250 m² vorgegeben, für jedes weitere Tier sind zusätzliche 20 m² erforderlich. Ferner muss eine Abtrennmöglichkeit vorhanden sein. Unter Berücksichtigung der Verhältnisse in der Wildbahn müsste aber der Bock während 6-8 Monaten von den Geißen abgetrennt werden, wozu ein vollwertiges Gehege und nicht nur eine Abtrennmöglichkeit erforderlich ist. Hält man Böcke von vier Jahren oder älter außerhalb der Brunft nicht separat, steigt das Risiko, dass Geißen vom Bock zu Tode geforkelt werden. Die Schweizerische Tierschutzverordnung (Stand 01.06.2024) schreibt für bis zu 4 Tieren ein Gehege vor, dessen Grundfläche 500 m² misst und das über Sichtblenden und Ausweichmöglichkeiten verfügt. Für jedes weitere Tier kommen 50 m² zur Basisflächen dazu. Es sind natürliche oder künstliche Unterstände anzubieten, in denen alle Tiere gleichzeitig Platz finden. Sofern die Tiere aufgestallt werden, ist eine Grundfläche von mindestens 4 m²/Tier vorgeschrieben. Nach der 2. Tierhaltungsverordnung Österreichs (Stand 2024) sind für bis zu 10 Tiere 500 m² erforderlich, für jedes weitere 50 m² mehr. Es müssen Unterstände zum Schutz gegen Witterungsverhältnisse wie Regen, Wind, Sonneneinstrahlung und Hitze angeboten werden, so dass alle Tiere bei Bedarf darin gleichzeitig Unterschlupf finden können. Die Haltung hat in Herden zu erfolgen. Taxonomie und NomenklaturDie Gemse wurde 1758 von Carl von LINNÉ als "Capra rupicapra" erstmals wissenschaftlich beschrieben. Zur Verbreitung sagte er: "Habitat in alpibus Helveticis summis inaccessis", womit klar ist, dass er sich auf die Alpen-, nicht auf die Mittelmeergemse bezog. 1816 stellte der französische Zoologe Henri Marie Ducrotay de BLAINVILLE die Art in die neue und heute noch gültige Gattung Rupicapra [16; 17]. In älteren Naturgeschichtsbüchern wurde die Gemse zumeist als "Gebirgsantilope" qualifiziert, was nicht richtig ist, denn sie gehört in die Ziegenverwandtschaft. Rupicapra galt lange als monospezifische Gattung, wobei mehrere Unterarten unterschieden wurden. Heute wird die Gattung zumeist in zwei Arten unterteilt und von Rupicapra rupicapa werden sieben Unterarten differenziert, von denen drei nach der umstrittenen jüngsten Taxonomie von GROVES & GRUBB (2011) zwei neu geschaffenen "Arten" zugewiesen werden [16; 17]:
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Literatur und Internetquellen
- ANDERWALD, P. (2020). Rupicapra rupicapra. The IUCN Red List of Threatened Species 2020: e.T39255A22149561. https://dx.doi.org/10.2305/IUCN.UK.2020-3.RLTS.T39255A22149561.en. Downloaded on 17 December 2020.
- AUTONOME PROVINZ BOZEN-SÜDTIROL, FORSTAMT
- BAUMANN, P. W. (2010)
- DEUTSCHER JAGDVERBAND
- EIDG. JAGDSTATISTIK
- GRIMMBERGER & RUDLOFF (2009)
- HAUSSER, J. et al. (Hrsg., 1995)
- MATSCHEI, Ch. (2003)
- MEILE, P. (1983)
- MEILE, P. (1985)
- MEILE, P. (1986)
- PUSCHMANN, W., ZSCHEILE, D., & ZSCHEILE, K. (2009)
- SALZMANN, H. C. (1975)
- STATISTIK AUSTRIA
- WEIGL, R. (2005)
- WILSON, D. E. et al. eds. (2009-2019)
- WILSON, D. E. & REEDER, D. M. (2005)
- DAMOIS, P., ROBOVSKÝ, J.,MUELLER, D, PENELLO, M.,ZIMMERMANN,M., VAN DER MEER, R. & VOORHAM, M. (eds., 2020)
- KURIER vom 05.08.2022
- HEDIGER, H. (1951)
*entsprechend den Empfehlungen der Schweizerischen Orthographischen Konferenz (SOK) bleibt das Zootier-Lexikon bei der seit Jahrhunderten üblichen Schreibweise "Gemse"
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